Postwachstum ist eine florierende,
pluralistische Wissenschaftsrichtung, die verschiedene Strömungen der
heterodoxen Wirtschaftswissenschaft umfasst. Dazu zählen Donut-,
Wellbeing-und Steady-State-Ökonomie sowie Degrowth. Obwohl jede Richtung
ihre eigenen Spezifika hat, vereint sie ein gemeinsames Ziel:
Wege zu finden, wie unsere Wirtschaft in die planetaren Grenzen zurückkehren
und gleichzeitig das Wohlergehen aller Menschen ermöglichen kann. In „Post-growth: the science
of wellbeing within planetary boundaries“
stellen Giorgos Kallis, Jason Hickel, Daniel O'Neill, Tim Jackson, Kate
Raworth, Juliet B. Schor, Julia K. Steinberger und Diana Ürge-Vorsatz die
Essenz dieser pluralen Disziplin, und ihre jeweiligen Schwerpunkte vor.
Dieser Blogbeitrag gibt einen Überblick über diese erste umfassende
Zusammenfassung der Postwachstumsliteratur. Den Abschluss bilden einige
Überlegungen von Myriam Best,
Degrowth-Expertin und Mitglied des Kernteams des Swiss Donut Economics Network.
Postwachstum: verschiedene Strömungen und ein gemeinsames Ziel
Postwachstum ist ein transdisziplinäres akademisches Feld, zu dem Doughnut Economics, Wellbeing Economics, Steady-State Economics und Degrowth gehören. Trotz ihrer Unterschiede eint alle diese Strömungen ein gemeinsames Anliegen. Wie kann das derzeitige Wirtschaftssystem so umgestaltet werden, dass es innerhalb der planetaren Grenzen funktioniert und gleichzeitig das menschliche Wohlergehen ermöglicht? Die Postwachstums-Theorie argumentiert, dass das Wirtschaftswachstum als einziger (und ungeeigneter) Indikator für Fortschritt aufgegeben werden muss und dass man sich stattdessen auf das menschliche Wohlbefinden, die Widerstandsfähigkeit der Umwelt und die Einhaltung der biophysikalischen Grenzen konzentrieren sollte. Ziel ist die Reduktion der Produktion unnötiger und schädlicher Güter und Dienstleitungen bei gleichtzeitiger Steigerung der Produktion nützlicher Güter und Dienstleistungen. Dies kann zur Verringerung des BPI führen – ist jedoch kein Selbstzweck.
Von der Steuerung des Wachstums zur Handlung innerhalb planetarer Grenzen
Bereits vor mehr als 50 Jahren wies der Limits to Growth Bericht auf die Gefahren des unendlichen Strebens nach Wirtschaftswachstum hin. Exponentielles Wirtschaftswachstum erfordert eine immer stärkere Entnahme von materiellen, natürlichen und menschlichen Ressourcen und verursacht immer stärkere Umweltverschmutzung und immer grössere Abfallmengen. Dies belastet die Widerstandsfähigkeit unseres Erdsystems und die Stabilität unserer Sozialsysteme. Die Szenarien des World3 Limits to Growth Modells prognostizierten einen Anstieg der Ressourcenverbrauchs- und Umweltverschmutzungswerte, gefolgt von einem abrupten Rückgang der Produktion, der Nahrungsmittel und der Bevölkerung bis hin zum Aussterben. Neuere Forschungen haben den Zusammenhang zwischen dem beschleunigten, exponentiellen Wirtschaftswachstum und ökologischen sowie biophysikalischen Schäden nachgewiesen. Dieser Zusammenhang ist als 'Great Acceleration' bekannt. Seither liegt der Schwerpunkt nicht mehr auf der Regulierung des Wirtschaftswachstums innerhalb bestimmter Grenzen, sondern auf der Reduktion der negativen Auswirkungen der Wirtschaftsaktivitäten, damit diese die Widerstandsfähigkeit unseres Erdsystems nicht mehr gefährden.
Empirische Erkenntnisse widerlegen die Perspektive eines grünen Wachstums
Befürworter:innen des grünen Wachstums
argumentieren, dass sich der Ressourcenverbrauch vom BIP-Wachstum entkoppeln
lässt. Das bedeutet, dass für die Produktion jeder Einheit weniger Energie- und
Materialressourcen benötigt würden. Zwar ist eine relative Entkopplung des BIP
vom Materialverbrauch weit verbreitet, doch neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es keine Belege für eine dauerhafte absolute
Entkopplung gibt, bei der das BIP ansteigt, während der Energie- und
Ressourcenverbrauch gleichzeitig abnimmt. Darüber hinaus zeigen neuere
Prognosen, dass eine absolute Entkopplung im globalen Umfang unwahrscheinlich
ist. Warum ist das so? Eine Erklärung ist der Rebound-Effekt: Werden neuere,
umweltfreundlichere Energiequellen verfügbar, ersetzen sie nicht die
bestehenden emissionsintensiven Energiequellen, sondern tragen zum bestehenden
Energieverbrauch bei und stimulieren die Gesamtnachfrage nach Energie.
Zudem verlagern die Dienstleistungsländer des Globalen Nordens ihre
landwirtschaftliche und industrielle Produktion in grossem Umfang in den
Globalen Süden, während sie sich im Norden gleichzeitig eines geringeren
materiellen Fussabdrucks rühmen. Zwar nimmt die inländische Materialentnahme im
Globalen Norden ab, doch ihr gesamter materieller Fussabdruck (d. h.
einschliesslich extraterritorialer Auswirkungen etwa durch Importe) wächst auf Kosten
des Globalen Südens weiter an.
Trotz der geringen Wahrscheinlichkeit einer absoluten Entkopplung ist grünes
Wachstum ein Standardmerkmal der 1,5 °C- und 2 °C-Klimaschutzszenarien, was höchst
problematisch ist. Zur
Lösung der negativen Folgen des anhaltenden Wirtschaftswachstums setzen diese
Szenarien darüber hinaus auf gross angelegte negative Emissionstechnologien und
-Minderungssysteme, die zum aktuellen Zeitpunkt noch gar nicht existieren. Ein
weiterer entscheidender Punkt ist, dass die sozioökonomischen Auswirkungen des
Klimawandels in diesen Modellen keine Berücksichtigung finden.
Makroökonomische Postwachstums-Modelle sind dringend erforderlich
Es ist inzwischen erwiesen, dass eine Reduzierung des materiellen Fussabdrucks auf ein nachhaltiges Niveau in der erforderlichen Geschwindigkeit und Grössenordnung leichter durch Postwachstum zu erreichen ist, also durch eine gezielte Reduzierung der Wirtschaftstätigkeit. Um die Transformation zur Postwachstumsökonomie zu erforschen, entwickeln Forscher:innen umfassendere ökologische makroökonomische Modelle, mit denen sich politische Massnahmen zur Bewältigung des Problems ohne Wachstum testen lassen. Während traditionelle makroökonomische Modelle dem Wachstum Vorrang vor dem Klimawandel einräumten und dabei stark vereinfachte und unvollständige Ansätze verfolgten (zum Beispiel das DICE-Modell von Nordhaus), geben neuere Modelle den planetaren Grenzen Vorrang vor dem Wirtschaftswachstum. Die Frage lautet somit nicht mehr: „Wie viel Klimawandel kann die Wirtschaft verkraften und gleichzeitig weiterwachsen?“, sondern: „Wie können unsere Wirtschaftssysteme so organisiert werden, dass sie innerhalb der Grenzen unseres Planeten funktionieren ?“ Da sich das Zeitfenster, in dem ein ökologischer Zusammenbruch noch verhindert werden kann, in alarmierendem Tempo verkleinert, sind makroökonomische Postwachstums-Modelle von entscheidender Bedeutung, um genauere Klimaschutzszenarien zu entwickeln.
Menschliches Wohlergehen und die sozialen Grenzen des Wirtschaftswachstums
Das Streben nach endlosem Wirtschaftswachstum ist keine Voraussetzung für menschliches Wohlergehen. Ab einem bestimmten BIP-Niveau können die Kosten des Wachstums (beispielsweise Umweltverschmutzung, Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit und soziale Unruhen) den Nutzen überwiegen. Ein solches Wachstum wird dann als unwirtschaftlich bezeichnet. Diese Hypothese wird durch das Easterlin-Paradoxon gestützt: Zwar wächst die selbst wahrgenommene Lebenszufriedenheit bis zu einem bestimmten Niveau und im Laufe der Zeit mit dem Einkommen; ein zusätzliches Einkommenswachstum ist jedoch nicht signifikant damit korreliert.
Eine Postwachstumspolitik ist notwendig, um das menschliche Wohlergehen innerhalb der planetaren Grenzen zu sichern
Jüngste Studien zeigen, dass Länder mit
Vollbeschäftigungspolitik, starken sozialen Sicherheitsnetzen und öffentlichen Dienstleistungen eine höhere Lebenszufriedenheit aufweisen. Zudem haben zwischenmenschliche Beziehungen
einen viel stärkeren Einfluss auf das persönliche Wohlbefinden als das
Einkommen. Ausgehend von diesen Prämissen zielt Postwachstum darauf ab, die Art
von Politik zu definieren, die ein hohes Mass an Wohlbefinden (Befriedigung der
Grundbedürfnisse und selbstberichtete Lebenszufriedenheit) bei möglichst
geringem Ressourcen- und Energieverbrauch gewährleisten kann. So steht etwa
eine universelle Grundversorgung – eine zentrale Empfehlung der
Postwachstumsstrategie – in direktem Zusammenhang mit positiven sozialen
Ergebnissen.
Die nachstehende Tabelle enthält eine Zusammenfassung der
aktuellen politischen Vorschläge einschliesslich der wichtigsten Argumente
ihrer Befürworter:innen und Kritiker:innen.
Kann unsere Wirtschaft ohne Wachstum bestehen?
Unsere Wirtschaft ist im Wesentlichen auf BIP-Wachstum
angewiesen. Daher muss sich die Postwachstumswissenschaft mit den Bedingungen
für ein Gedeihen ohne Wirtschaftswachstum befassen. Wie kann eine
Postwachstums-Politik finanziert werden, wenn es kein Wirtschaftswachstum gibt?
Wie können die Ökonomien des Globalen Nordens den ungleichen und
ausbeuterischen Austausch mit den Ländern des Globalen Südens mit mittleren und
niedrigen Einkommen durchbrechen? Welche politischen und geopolitischen
Implikationen hätte ein Postwachstums-Paradigma? Mit diesen zentralen Fragen
beschäftigen sich derzeit grosse Postwachstums-Projekte, und wir können in den
nächsten Jahren mit erheblichen Erkenntnisfortschritten rechnen.
Einige Gedanken
Aus meiner Sicht bietet Postwachstum
eine Fülle von Wissen und Erkenntnissen zur dringend notwendigen Umgestaltung
unseres Wirtschaftssystems, damit es mit den Bedingungen des Lebens auf der
Erde vereinbar ist. Das Thema Postwachstum gewinnt immer mehr an Bedeutung. Ein
Beleg dafür ist das mit 10 Millionen Euro von der EU finanzierte Projekt „A Post-Growth Deal“ (REAL), das von Giorgos Kallis, Jason Hickel und
Julia Steinberger geleitet wird. Das Projekt untersucht, wie sich der Energie-
und Ressourcenverbrauch drastisch verringern lässt, während gleichzeitig die
Armut beendet und ein menschenwürdiges Leben für alle gewährleistet wird. Es
werden neue politische, ökonomische und Versorgungsmodelle für eine
Postwachstum-Zukunft vorgeschlagen und Fragen der Entwicklung im globalen Süden
erörtert.
In der Schweiz verfolgt das «Sustainability Transformation Research Initiative»
(STRIVE) Projekt
ähnliche Ziele und konzentriert sich auf die Definition von Postwachstumswegen
für unser Land. Während die Postgrowth-Forschungsanstrengungen intensiviert
werden, ist es von grundlegender Bedeutung, dieses Wissen öffentlich zugänglich
und politisch umsetzbar zu machen.
Dieses wertvolle Wissen muss rasch und breit zugänglich gemacht werden, um den
Weg für einen ehrgeizigen systemischen Wandel zu ebnen. Die gescheiterte
Abstimmung zur kürzlichen Umweltverantwortungsinitiative hätte aus meiner Sicht
zu einem anderen Ergebnis geführt, wenn sich die öffentliche Debatte auf die
Herausforderungen unseres derzeitigen unersättlichen und ungerechten
Wirtschaftssystems und seine verheerenden Auswirkungen auf die
Lebensbedingungen auf der Erde konzentriert hätte.
Quelle: 2025, Kallis et al., Post-growth: the science of wellbeing within planetary boundaries.