Postwachstum : die Wissenschaft des Wellbeings innerhalb der planetaren Grenzen

- präsentiert von weltweit führenden Expert:innen auf diesem Gebiet
17. Juni 2025 durch
Swiss Donut Economics Network, Myriam Best

Postwachstum ist eine florierende, pluralistische Wissenschaftsrichtung, die verschiedene Strömungen der heterodoxen Wirtschaftswissenschaft umfasst. Dazu zählen Donut-, Wellbeing-und Steady-State-Ökonomie sowie Degrowth. Obwohl jede Richtung ihre eigenen Spezifika hat, vereint sie ein gemeinsames Ziel: Wege zu finden, wie unsere Wirtschaft in die planetaren Grenzen zurückkehren und gleichzeitig das Wohlergehen aller Menschen ermöglichen kann. In „Post-growth: the science of wellbeing within planetary boundaries“ stellen Giorgos Kallis, Jason Hickel, Daniel O'Neill, Tim Jackson, Kate Raworth, Juliet B. Schor, Julia K. Steinberger und Diana Ürge-Vorsatz die Essenz dieser pluralen Disziplin, und ihre jeweiligen Schwerpunkte vor.
Dieser Blogbeitrag gibt einen Überblick über diese erste umfassende Zusammenfassung der Postwachstumsliteratur. Den Abschluss bilden einige Überlegungen von Myriam Best, Degrowth-Expertin und Mitglied des Kernteams des Swiss Donut Economics Network.

Postwachstum: verschiedene Strömungen und ein gemeinsames Ziel 

Postwachstum ist ein transdisziplinäres akademisches Feld, zu dem  Doughnut Economics,  Wellbeing Economics,  Steady-State Economics  und  Degrowth  gehören. Trotz ihrer Unterschiede eint alle diese Strömungen ein gemeinsames Anliegen. Wie kann das derzeitige Wirtschaftssystem so umgestaltet werden, dass es innerhalb der planetaren Grenzen funktioniert und gleichzeitig das menschliche Wohlergehen ermöglicht? Die Postwachstums-Theorie argumentiert, dass das Wirtschaftswachstum als einziger (und ungeeigneter) Indikator für Fortschritt aufgegeben werden muss und dass man sich stattdessen auf das menschliche Wohlbefinden, die Widerstandsfähigkeit der Umwelt und die Einhaltung der biophysikalischen Grenzen konzentrieren sollte. Ziel ist die Reduktion der Produktion unnötiger und schädlicher Güter und Dienstleitungen bei gleichtzeitiger Steigerung der Produktion nützlicher Güter und Dienstleistungen. Dies kann zur Verringerung des BPI führen – ist jedoch kein Selbstzweck.

Von der Steuerung des Wachstums zur Handlung innerhalb planetarer Grenzen

Bereits vor mehr als 50 Jahren wies der Limits to Growth Bericht auf die Gefahren des unendlichen Strebens nach Wirtschaftswachstum hin. Exponentielles Wirtschaftswachstum erfordert eine immer stärkere Entnahme von materiellen, natürlichen und menschlichen Ressourcen und verursacht immer stärkere Umweltverschmutzung und immer grössere Abfallmengen. Dies belastet die Widerstandsfähigkeit unseres Erdsystems und die Stabilität unserer Sozialsysteme. Die Szenarien des World3 Limits to Growth Modells prognostizierten einen Anstieg der Ressourcenverbrauchs- und Umweltverschmutzungswerte, gefolgt von einem abrupten Rückgang der Produktion, der Nahrungsmittel und der Bevölkerung bis hin zum Aussterben. Neuere Forschungen haben den Zusammenhang zwischen dem beschleunigten, exponentiellen Wirtschaftswachstum und ökologischen sowie biophysikalischen Schäden nachgewiesen. Dieser Zusammenhang ist als 'Great Acceleration' bekannt. Seither liegt der Schwerpunkt nicht mehr auf der Regulierung des Wirtschaftswachstums innerhalb bestimmter Grenzen, sondern auf der Reduktion der negativen Auswirkungen der Wirtschaftsaktivitäten, damit diese die Widerstandsfähigkeit unseres Erdsystems nicht mehr gefährden.

Empirische Erkenntnisse widerlegen die Perspektive eines grünen Wachstums

Befürworter:innen des grünen Wachstums argumentieren, dass sich der Ressourcenverbrauch vom BIP-Wachstum entkoppeln lässt. Das bedeutet, dass für die Produktion jeder Einheit weniger Energie- und Materialressourcen benötigt würden. Zwar ist eine relative Entkopplung des BIP vom Materialverbrauch weit verbreitet, doch neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es keine Belege für eine dauerhafte absolute Entkopplung gibt, bei der das BIP ansteigt, während der Energie- und Ressourcenverbrauch gleichzeitig abnimmt. Darüber hinaus zeigen neuere Prognosen, dass eine absolute Entkopplung im globalen Umfang unwahrscheinlich ist. Warum ist das so? Eine Erklärung ist der Rebound-Effekt: Werden neuere, umweltfreundlichere Energiequellen verfügbar, ersetzen sie nicht die bestehenden emissionsintensiven Energiequellen, sondern tragen zum bestehenden Energieverbrauch bei und stimulieren die Gesamtnachfrage nach Energie. 
Zudem verlagern die Dienstleistungsländer des Globalen Nordens ihre landwirtschaftliche und industrielle Produktion in grossem Umfang in den Globalen Süden, während sie sich im Norden gleichzeitig eines geringeren materiellen Fussabdrucks rühmen. Zwar nimmt die inländische Materialentnahme im Globalen Norden ab, doch ihr gesamter materieller Fussabdruck (d. h. einschliesslich extraterritorialer Auswirkungen etwa durch Importe) wächst auf Kosten des Globalen Südens weiter an. 
Trotz der geringen Wahrscheinlichkeit einer absoluten Entkopplung ist grünes Wachstum ein Standardmerkmal der 1,5 °C- und 2 °C-Klimaschutzszenarien, was höchst problematisch ist. Zur Lösung der negativen Folgen des anhaltenden Wirtschaftswachstums setzen diese Szenarien darüber hinaus auf gross angelegte negative Emissionstechnologien und -Minderungssysteme, die zum aktuellen Zeitpunkt noch gar nicht existieren. Ein weiterer entscheidender Punkt ist, dass die sozioökonomischen Auswirkungen des Klimawandels in diesen Modellen keine Berücksichtigung finden.

Makroökonomische Postwachstums-Modelle sind dringend erforderlich

Es ist inzwischen erwiesen, dass eine Reduzierung des materiellen Fussabdrucks auf ein nachhaltiges Niveau in der erforderlichen Geschwindigkeit und Grössenordnung leichter durch Postwachstum zu erreichen ist, also durch eine gezielte Reduzierung der Wirtschaftstätigkeit. Um die Transformation zur Postwachstumsökonomie zu erforschen, entwickeln Forscher:innen umfassendere ökologische makroökonomische Modelle, mit denen sich politische Massnahmen zur Bewältigung des Problems ohne Wachstum testen lassen. Während traditionelle makroökonomische Modelle dem Wachstum Vorrang vor dem Klimawandel einräumten und dabei stark vereinfachte und unvollständige Ansätze verfolgten (zum Beispiel das DICE-Modell von Nordhaus), geben neuere Modelle den planetaren Grenzen Vorrang vor dem Wirtschaftswachstum. Die Frage lautet somit nicht mehr: „Wie viel Klimawandel kann die Wirtschaft verkraften und gleichzeitig weiterwachsen?“, sondern: „Wie können unsere Wirtschaftssysteme so organisiert werden, dass sie innerhalb der Grenzen unseres Planeten funktionieren ?“ Da sich das Zeitfenster, in dem ein ökologischer Zusammenbruch noch verhindert werden kann, in alarmierendem Tempo verkleinert, sind makroökonomische Postwachstums-Modelle von entscheidender Bedeutung, um genauere Klimaschutzszenarien zu entwickeln.

Menschliches Wohlergehen und die sozialen Grenzen des Wirtschaftswachstums

Das Streben nach endlosem Wirtschaftswachstum ist keine Voraussetzung für menschliches Wohlergehen.Ab einem bestimmten BIP-Niveau können die Kosten des Wachstums (beispielsweise Umweltverschmutzung, Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit und soziale Unruhen) den Nutzen überwiegen. Ein solches Wachstum wird dann als unwirtschaftlich bezeichnet. Diese Hypothese wird durch das Easterlin-Paradoxon gestützt: Zwar wächst die selbst wahrgenommene Lebenszufriedenheit bis zu einem bestimmten Niveau und im Laufe der Zeit mit dem Einkommen; ein zusätzliches Einkommenswachstum ist jedoch nicht signifikant damit korreliert.

Eine Postwachstumspolitik ist notwendig, um das menschliche Wohlergehen innerhalb der planetaren Grenzen zu sichern

Jüngste Studien zeigen, dass Länder mit Vollbeschäftigungspolitik, starken sozialen Sicherheitsnetzen und öffentlichen Dienstleistungen eine höhere Lebenszufriedenheit aufweisen. Zudem haben zwischenmenschliche Beziehungen einen viel stärkeren Einfluss auf das persönliche Wohlbefinden als das Einkommen. Ausgehend von diesen Prämissen zielt Postwachstum darauf ab, die Art von Politik zu definieren, die ein hohes Mass an Wohlbefinden (Befriedigung der Grundbedürfnisse und selbstberichtete Lebenszufriedenheit) bei möglichst geringem Ressourcen- und Energieverbrauch gewährleisten kann. So steht etwa eine universelle Grundversorgung – eine zentrale Empfehlung der Postwachstumsstrategie – in direktem Zusammenhang mit positiven sozialen Ergebnissen. 
Die nachstehende Tabelle enthält eine Zusammenfassung der aktuellen politischen Vorschläge einschliesslich der wichtigsten Argumente ihrer Befürworter:innen und Kritiker:innen.

Kann unsere Wirtschaft ohne Wachstum bestehen?

Unsere Wirtschaft ist im Wesentlichen auf BIP-Wachstum angewiesen. Daher muss sich die Postwachstumswissenschaft mit den Bedingungen für ein Gedeihen ohne Wirtschaftswachstum befassen. Wie kann eine Postwachstums-Politik finanziert werden, wenn es kein Wirtschaftswachstum gibt? 
Wie können die Ökonomien des Globalen Nordens den ungleichen und ausbeuterischen Austausch mit den Ländern des Globalen Südens mit mittleren und niedrigen Einkommen durchbrechen? Welche politischen und geopolitischen Implikationen hätte ein Postwachstums-Paradigma? Mit diesen zentralen Fragen beschäftigen sich derzeit grosse Postwachstums-Projekte, und wir können in den nächsten Jahren mit erheblichen Erkenntnisfortschritten rechnen.

Einige Gedanken 

Aus meiner Sicht bietet Postwachstum eine Fülle von Wissen und Erkenntnissen zur dringend notwendigen Umgestaltung unseres Wirtschaftssystems, damit es mit den Bedingungen des Lebens auf der Erde vereinbar ist. Das Thema Postwachstum gewinnt immer mehr an Bedeutung. Ein Beleg dafür ist das mit 10 Millionen Euro von der EU finanzierte Projekt „A Post-Growth Deal“ (REAL), das von Giorgos Kallis, Jason Hickel und Julia Steinberger geleitet wird. Das Projekt untersucht, wie sich der Energie- und Ressourcenverbrauch drastisch verringern lässt, während gleichzeitig die Armut beendet und ein menschenwürdiges Leben für alle gewährleistet wird. Es werden neue politische, ökonomische und Versorgungsmodelle für eine Postwachstum-Zukunft vorgeschlagen und Fragen der Entwicklung im globalen Süden erörtert.
In der Schweiz verfolgt das «Sustainability Transformation Research Initiative» (STRIVE) Projekt ähnliche Ziele und konzentriert sich auf die Definition von Postwachstumswegen für unser Land. Während die Postgrowth-Forschungsanstrengungen intensiviert werden, ist es von grundlegender Bedeutung, dieses Wissen öffentlich zugänglich und politisch umsetzbar zu machen.
Dieses wertvolle Wissen muss rasch und breit zugänglich gemacht werden, um den Weg für einen ehrgeizigen systemischen Wandel zu ebnen. Die gescheiterte Abstimmung zur kürzlichen Umweltverantwortungsinitiative hätte aus meiner Sicht zu einem anderen Ergebnis geführt, wenn sich die öffentliche Debatte auf die Herausforderungen unseres derzeitigen unersättlichen und ungerechten Wirtschaftssystems und seine verheerenden Auswirkungen auf die Lebensbedingungen auf der Erde konzentriert hätte.

Quelle: 2025, Kallis et al., Post-growth: the science of wellbeing within planetary boundaries.