Wissenschaftler:innen quantifizieren den sicheren und gerechten Korridor für die Menschheit und alle anderen Arten im Anthropozän

Zusammenfassung und Diskussion des kürzlich erschienenen Artikels "A Just World on a Safe Planet" der Lancet Planetary Health Commission von unserem Kerngruppenmitglied Myriam Best
28. Oktober 2024 durch
Swiss Donut Economics Network, Myriam Best

Der Gesundheitszustand unseres Planeten ist alarmierend. Sechs der neun planetaren Belastungsgrenzen sind überschritten: Klimawandel, Süsswasser, Landnutzung, Integrität der Biosphäre, Störung der Stoffkreisläufe und Freisetzung von neuartigen Substanzen (sog. «Novel Entities»). Eine siebte Grenze - die Versauerung der Ozeane - steht kurz vor der Überschreitung. Von den 28 identifizierten Kipppunkten sind sieben gefährdet, was die Stabilität des Erdsystems weiter bedroht. Die Lebenszeichen des Planeten Erde sind nicht nur in einem kritischen Zustand, sondern das Tempo der Verschlechterung beschleunigt sich, was auf einen Verlust der Widerstandsfähigkeit hindeutet. „Die Lebenszeichen unseres Planeten blinken rot", so lautet die düstere Diagnose des allerersten Planetary Health Checks, der im September 2024 veröffentlicht wurde. Trotz des düsteren Bildes liefert der Bericht eine Bewertung, die als Grundlage für Massnahmen dienen kann.

Ein sicherer und gerechter Korridor für Menschen und nicht-menschliche Arten

Die Studie «A just world on a safe planet» („Eine gerechte Welt auf einem sicheren Planeten“) der Lancet Planetary Health Commission - einem Team von über 60 weltweit führenden Sozial- und Naturwissenschaftler:innen - geht noch einen Schritt weiter. Sie haben einen „sicheren und gerechten Korridor“ modelliert, in dem menschliche und nicht-menschliche Arten die bestmöglichen Lebensbedingungen vorfinden und schweren Schaden vermeiden können. Form und Elemente des Korridors erinnern sofort an den Donut. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da der Donut als Antwort auf das Modell der planetaren Belastungsgrenzen entwickelt wurde. Es gibt jedoch einige Unterschiede, die darauf zurückzuführen sind, dass der Korridor eine genaue Quantifizierung unter Berücksichtigung globaler und lokaler Grenzen bietet. Die Quantifizierung des Korridors basiert auf anderen wissenschaftlichen Arbeiten und für einige Bereiche sind (noch) keine umfassenden Daten verfügbar. Die obere Grenze des Korridors besteht aus acht sicheren und gerechten Erdsystemgrenzen (Earth-system boundaries) für fünf Bereiche: Klima, Biosphäre, Süsswasser, Nährstoffkreisläufe, und Aerosole. Diese fünf Bereiche entsprechen fünf der neun planetaren Belastungsgrenzen. Die Erdsystemgrenzen gehen über die planetaren Belastungsgrenzen hinaus, indem sie Elemente von der lokalen bis zur globalen Ebene mit biophysikalischem und sozialwissenschaftlichem Wissen kombinieren.
Aufbauend auf früheren Forschungsarbeiten zur Quantifizierung von Mindestbedürfnissen, stellt die Basis des Korridors die Auswirkungen der Erfüllung des Mindestzugangs zu Nahrung, Wasser, Energie und Infrastruktur für die Weltbevölkerung dar. In seiner jetzigen Version berücksichtigt der Korridor vorerst nur den Zugang zu Bildung und Gesundheitsdienstleistungen, ein Mangel, der von den Forscher:innen anerkannt wird. Spätere Versionen werden in dieser Hinsicht umfassender sein, sicherlich in Anlehnung an die umfangreichere soziale Basis des Donuts.
Da sieben der acht sicheren und gerechten Erdsystemgrenzen bereits überschritten sind, stellt der sichere und gerechte Korridor einen existenziellen Kompass für die Menschheit dar.

Sichere und gerechte Erdsystemgrenzen nach Bereichen im Überblick :

Bereiche & sichere und gerechte Erdsystemgrenzen

Aktueller Stand

Klima
Eine Zunahme der globalen Erwärmung um nicht mehr als 1,0°C


Überschritten: 1,2°C.

Biosphäre
Gebiet mit natürlichem Ökosystem: > 50 - 60 % sollten weitgehend intakt sein, abhängig von der räumlichen Verteilung (das obere Ende wird empfohlen).

Funktionelle Integrität: >20-25% pro km2 sollten aus natürlicher oder naturnaher Vegetation bestehen.


Überschritten: 40-50%.




Bei zwei Dritteln der vom Menschen dominierten Landfläche überschritten.

Süsswasser
Oberflächengewässer: < 20 % monatliche Abflussveränderung.

Grundwasser: Jährliche Absenkung geringer als die Neubildung.


Bei 34% der globalen Fläche überschritten.


Bei 47% der globalen Fläche überschritten.

Nährstoffkreisläufe
Stickstoff:
sichere Grenze: < 2,5 mgN/L in Oberflächengewässern und < 5-20 kgN/ha/yr Landdeposition (lokal); 61 TgN/yr Überschuss (global)
gerechte Grenze: entspricht der sicheren Grenze, plus Trinkwasser < 11,3 mgNO3-N/L (lokal); 57 TgN/Jahr Überschuss (global).

Phosphor:
sichere Grenze: 50-100 mgP/m3 (lokale Süsswasserkonzentration); 4,5-9 TgP/Jahr (globaler Überschuss).
gerechte Grenze:  entspricht der sicheren Grenze, plus zusätzliche lokale Standards.



Bei 119 TgN/yr überschritten.

 

 

 

 

Bei 10 TgP/Jahr überschritten.

Aerosole
sichere und gerechte Grenze (global): 0,15 jährlicher mittlerer interhemisphärischer aerosoloptische Tiefe (AOD) - Unterschied.

sichere und gerechte Grenze (lokal): 0,25 aerosoloptische Tiefe (AOD), um Veränderungen des Monsuns zu vermeiden. 15 μg/m3 PM2.5, um eine hohe Wahrscheinlichkeit von Schäden für die menschliche Gesundheit zu vermeiden.


Bei 0,05 nicht überschritten.


An vielen Orten der Welt bereits überschritten.

Erdsystem-Gerechtigkeit als grundlegendes Erfordernis

Erdsystemgerechtigkeit wird als grundlegendes Erfordernis eingeführt, um sicherzustellen, dass die festgelegten Grenzwerte Schäden verringern, das Wohlergehen verbessern und Gerechtigkeit widerspiegeln. Erdsystemgerechtigkeit umfasst drei Dimensionen: Gerechtigkeit zwischen den Arten, Gerechtigkeit zwischen den Generationen und Gerechtigkeit innerhalb der Generationen. Diese dreifache Definition anerkennt, dass menschliche Aktivitäten die Lebensbedingungen nichtmenschlicher Arten untergraben. Sie stellt gleichzeitig fest, dass Massnahmen zur Abschwächung der Auswirkungen auf künftige Generationen vergangene Verantwortlichkeiten und künftige Folgen berücksichtigen müssen. Ebenfalls zentral ist, dass die globale Erwärmung und die Überschreitung der planetaren Grenzen zum grossen Teil von den Ländern des globalen Nordens verursacht werden, während die daraus resultierenden Verluste und Schäden vor allem die Menschen im globalen Süden treffen, die jedoch am wenigsten für diese Situation verantwortlich sind. Transformations-, Anpassungs- und Minderungsanstrengungen müssen entsprechend geteilt und verteilt werden.

Die Menschheit befindet sich derzeit in den meisten Bereichen ausserhalb des Korridors

Gegenwärtig befindet sich die Menschheit in den meisten Bereichen ausserhalb des Korridors, obwohl die als Grundlage definierten Mindestbedürfnisse für die Mehrheit der Weltbevölkerung noch nicht erfüllt sind. Die Erfüllung der Mindestbedürfnisse für alle würde den biophysikalischen Druck erhöhen und den sicheren und gerechten Korridor weiter verkleinern. Ein „Weiter so“ ist keine Option, denn es würde den sicheren und gerechten Korridor weiter einengen - möglicherweise bis zu einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Diese Sorge ist im Klimabereich besonders ausgeprägt, wie die Autor:innen im Bericht betonen: „Radikale Dekarbonisierungsanstrengungen in Kombination mit Umverteilung werden notwendig sein, um einen sicheren und gerechten Klimakorridor für die Zukunft zu eröffnen".

Die Umsetzung der Erdsystemgrenzen erfordert die Mobilisierung aller relevanten Akteur:innen

Die Operationalisierung von sicheren und gerechten Erdsystemgrenzen erfordert die Übersetzung in umsetzbare Massnahmen für alle relevanten Akteur:innen - politische Entscheidungsträger:innen, Unternehmen, Bürger:innen - auf supranationaler, nationaler, regionaler, kommunaler, privater, industrieller und betrieblicher Ebene. In ihrem Artikel konzentrieren sich die Wissenschaftler:innen auf die Rolle von Städten und Unternehmen bei der erforderlichen Umgestaltung, und auf die Frage, wie diese die Erdsystemgrenzen auf ihrer Ebene operationalisieren können. Sie argumentieren, dass diese Akteur:innen eher zu schnellem Handeln neigen als Staaten und supranationale Institutionen. Dies gilt insbesondere für Städte: Es gibt verschiedene Koalitionen für den Klimaschutz und vielerorts werden Nettonull-Pläne entwickelt.
Die Konzentration auf Städte und Unternehmen als Akteur:innen des Wandels scheint mir jedoch aus vielen Gründen überraschend. Zwar sind Städte und Unternehmen in der Tat für einen grossen Teil der Umweltbelastung in allen Erdsystemgrenzen verantwortlich, aber ihre (rechtlichen) Möglichkeiten sind in Umfang und Reichweite begrenzt. Dies steht im Gegensatz zur sozio-metabolischen Reichweite ihrer Entwicklung (d.h. der Gesamtheit der Material- und Energieströme, die durch die städtische Entwicklung und den städtischen Lebensstandard erzeugt werden), die sich aus der Operationalisierung von Hinterländern (Landschaften und Ressourcen) weit über ihre kartographischen Grenzen hinaus speist.
Ebenso wichtig ist es meiner Meinung nach, Unternehmen nur mit Vorsicht als potenzielle Vorreiter für eine gerechtere Welt und einen sichereren Planeten zu betrachten. Es gibt zwar einige Pionierunternehmen, die ihre Geschäftsmodelle umgestalten, indem sie wissenschaftsbasierte Ziele integrieren, aber die meisten konzentrieren sich leider bestenfalls auf die ESG-Berichterstattung und Kommunikationsbemühungen. Der Artikel prangert Greenwashing-Praktiken an und sieht in der Operationalisierung der Erdsystemgrenzen die Aussicht auf verantwortungsvollere Unternehmenspraktiken.
Für mich bleibt aber die Frage: Wie wirksam kann dies sein, wenn die Umsetzung von sicheren und gerechten Erdsystemgrenzen auf freiwilliger Basis durch die Unternehmen erfolgt? Es besteht kein Zweifel, dass es für eine sozioökonomische und ökologische Transformation in der Tiefe und Breite, wie sie der Status quo erfordert, verbindliche internationale und nationale Regelungen braucht. Auch wenn lokale und regionale Einheiten eine Rolle spielen, erfordert die globale Verantwortung für die Erdsystemgrenzen ein koordiniertes globales Vorgehen. Auf globaler Ebene könnten sie die
Sustainable Development Goals ergänzen - wenn nicht gar ersetzen - und dazu beitragen, das globale Management der globalen Commons zu fördern und politische Entscheidungen zu leiten.

Systemische und strukturelle Veränderungen sind notwendig

Um Wohlstand und eine faire und gerechte Verteilung der Ressourcen für alle Menschen weltweit zu gewährleisten, sind systemische und strukturelle Veränderungen notwendig - im Gegensatz zu kleinen, schrittweisen Veränderungen. „Sie beziehen sich darauf, wer Ressourcen nutzt, wie, warum, wo und wann sie genutzt werden und wer die Macht hat, Entscheidungen zu treffen und die Umwelt zu verändern”.
Die Wissentschaftler:innen schlagen vier grundlegende und miteinander verknüpfte Veränderungen vor, die durch systemweite Veränderungen in der Gouvernanz unterstützt werden, darunter die Verringerung und Umverteilung des Konsums, die Umgestaltung der Wirtschaftssysteme und die Erweiterung des Zugangs zu nachhaltigen Technologien.
Die Verringerung des übermässigen Konsums (von Gütern, Dienstleistungen, Energie, Nahrungsmitteln usw.) und die Umverteilung des Verbrauchs zugunsten von Menschen, die nicht über ausreichende Ressourcen verfügen, wird dabei zunehmend als eine Priorität erkannt, die auf Verteilungsgerechtigkeit beruht. Dabei geht es nicht nur um die Linderung von Armut und den Abbau von Ungleichheiten, sondern auch um die Veränderung von nicht nachhaltigen Lebensstilen und umweltgefährdenden Konsummustern der übermässig konsumierenden Bevölkerung des globalen Nordens hin zu suffizienteren Normen und Werten.

Wirtschaftliche Veränderungen sind ein wirksamer Hebel

Die vorherrschenden wachstumsorientierten politischen und wirtschaftlichen Systeme sind ein Hindernis für ein Leben im sicheren und gerechten Korridor. Sie stehen daher im Fokus für eine systemische Transformation. Der Bericht erwähnt unter anderem die Postwachstumsforschung, die grundlegende Veränderungen vorschlägt, um die politischen und wirtschaftlichen Systeme in den Dienst des Lebens und nicht des Profits und der Akkumulation zu stellen. Die Bewertung des Fortschritts sollte auf das Ziel ausgerichtet sein, innerhalb des gerechten und sicheren Korridors zu leben, und könnte daher Indikatoren für das Wohlergehen der Menschen und aller Lebewesen sowie für sozio-ökologische Grenzen umfassen. Die Annahme solcher alternativer Messgrössen würde einen zusätzlichen Anreiz für Veränderungen darstellen.
Nord-Süd-Gerechtigkeit könnte durch Schuldenerlass, die Beendigung schädlicher Strukturanpassungsprogramme und faire Entschädigungsfonds für Verluste und Schäden gefördert werden.
Die faire Nutzung von Technologien ist ein weiterer wichtiger Aspekt, um globale Gerechtigkeit zu gewährleisten. Eine zielführende Gouvernanz auf allen Ebenen - supranational, national und lokal - ist notwendig, um die Transformation von Konsum, Wirtschaft und Technologie zu ermöglichen. Dazu müssen alle relevanten Akteur:innen mobilisiert werden, um Einfluss auf formelle und informelle Regeln, Regelsysteme und Akteur:innen zu nehmen, die eine Anpassung an die Veränderungen des Erdsystems verhindern, abschwächen oder im Gegenteil fördern können.

In diesem Bericht wie auch in anderen aktuellen Publikationen wenden sich die Wissenschaftler:innen neben den üblichen Zielgruppen aus Wissenschaft und Politik zunehmend auch explizit an Bürger:innen und die breite Öffentlichkeit. Ich interpretiere diesen Wandel als Weckruf, dass jede:r von uns eine Rolle zu spielen hat, wenn es darum geht, mit vereinten Kräften das Leben auf unserem geliebten Planeten zu schützen. Es ist ein Aufruf zu kollektivem Handeln, welches das Potenzial hat, den Mangel an notwendigen politischen Massnahmen zu überwinden. Sich zu engagieren ist auch ein Weg, das Gefühl der Verzweiflung zu überwinden, das uns angesichts der harten Realität der Klima- und Umweltveränderungen überkommt.

Empfohlene Ressourcen zur Vertiefung:
Earth Commission
Planetary Health Check 2024
A just world on a safe planet: a Lancet Planetary Health–Earth Commission report on Earth-system boundaries, translations, and transformations