Der Gesundheitszustand unseres Planeten ist alarmierend. Sechs der neun planetaren Belastungsgrenzen sind überschritten: Klimawandel, Süsswasser, Landnutzung, Integrität der Biosphäre, Störung der Stoffkreisläufe und Freisetzung von neuartigen Substanzen (sog. «Novel Entities»). Eine siebte Grenze - die Versauerung der Ozeane - steht kurz vor der Überschreitung. Von den 28 identifizierten Kipppunkten sind sieben gefährdet, was die Stabilität des Erdsystems weiter bedroht. Die Lebenszeichen des Planeten Erde sind nicht nur in einem kritischen Zustand, sondern das Tempo der Verschlechterung beschleunigt sich, was auf einen Verlust der Widerstandsfähigkeit hindeutet. „Die Lebenszeichen unseres Planeten blinken rot", so lautet die düstere Diagnose des allerersten Planetary Health Checks, der im September 2024 veröffentlicht wurde. Trotz des düsteren Bildes liefert der Bericht eine Bewertung, die als Grundlage für Massnahmen dienen kann.
Ein sicherer und gerechter Korridor für Menschen und nicht-menschliche
Arten
Die Studie «A just world on a safe planet» („Eine gerechte Welt auf einem sicheren Planeten“) der Lancet Planetary Health Commission - einem Team von
über 60 weltweit führenden Sozial- und Naturwissenschaftler:innen - geht noch
einen Schritt weiter. Sie haben einen „sicheren und gerechten Korridor“
modelliert, in dem menschliche und nicht-menschliche Arten die bestmöglichen
Lebensbedingungen vorfinden und schweren Schaden vermeiden können. Form und
Elemente des Korridors erinnern sofort an den Donut. Dies ist nicht
weiter verwunderlich, da der Donut als Antwort auf das Modell der planetaren
Belastungsgrenzen entwickelt wurde. Es gibt jedoch einige Unterschiede, die
darauf zurückzuführen sind, dass der Korridor eine genaue Quantifizierung unter
Berücksichtigung globaler und lokaler Grenzen bietet. Die Quantifizierung des
Korridors basiert auf anderen wissenschaftlichen Arbeiten und für einige
Bereiche sind (noch) keine umfassenden Daten verfügbar. Die obere Grenze
des Korridors besteht aus acht sicheren und gerechten Erdsystemgrenzen (Earth-system
boundaries) für fünf Bereiche: Klima, Biosphäre, Süsswasser,
Nährstoffkreisläufe, und Aerosole. Diese fünf Bereiche entsprechen fünf der neun planetaren
Belastungsgrenzen. Die Erdsystemgrenzen gehen über die planetaren
Belastungsgrenzen hinaus, indem sie Elemente von der lokalen bis zur globalen
Ebene mit biophysikalischem und sozialwissenschaftlichem Wissen kombinieren.
Aufbauend auf früheren Forschungsarbeiten zur Quantifizierung von
Mindestbedürfnissen, stellt die Basis des Korridors die Auswirkungen der
Erfüllung des Mindestzugangs zu Nahrung, Wasser, Energie und Infrastruktur für
die Weltbevölkerung dar. In seiner jetzigen Version berücksichtigt der Korridor
vorerst nur den Zugang zu Bildung und Gesundheitsdienstleistungen, ein Mangel,
der von den Forscher:innen anerkannt wird. Spätere Versionen werden in dieser
Hinsicht umfassender sein, sicherlich in Anlehnung an die umfangreichere
soziale Basis des Donuts.
Da sieben der acht sicheren und gerechten Erdsystemgrenzen bereits
überschritten sind, stellt der sichere und gerechte Korridor einen
existenziellen Kompass für die Menschheit dar.
Sichere und gerechte Erdsystemgrenzen
nach Bereichen im Überblick :
Bereiche & sichere und gerechte Erdsystemgrenzen |
Aktueller Stand |
Klima |
|
Biosphäre |
|
Süsswasser |
|
Nährstoffkreisläufe Phosphor: |
Bei 10 TgP/Jahr überschritten. |
Aerosole |
An vielen Orten der Welt bereits überschritten. |
Erdsystem-Gerechtigkeit
als grundlegendes Erfordernis
Erdsystemgerechtigkeit wird als grundlegendes Erfordernis eingeführt, um
sicherzustellen, dass die festgelegten Grenzwerte Schäden verringern, das
Wohlergehen verbessern und Gerechtigkeit widerspiegeln. Erdsystemgerechtigkeit
umfasst drei Dimensionen: Gerechtigkeit zwischen den Arten, Gerechtigkeit
zwischen den Generationen und Gerechtigkeit innerhalb der Generationen. Diese
dreifache Definition anerkennt, dass menschliche Aktivitäten die
Lebensbedingungen nichtmenschlicher Arten untergraben. Sie stellt gleichzeitig
fest, dass Massnahmen zur Abschwächung der Auswirkungen auf künftige
Generationen vergangene Verantwortlichkeiten und künftige Folgen
berücksichtigen müssen. Ebenfalls zentral ist, dass die globale Erwärmung und
die Überschreitung der planetaren Grenzen zum grossen Teil von den Ländern des
globalen Nordens verursacht werden, während die daraus resultierenden Verluste
und Schäden vor allem die Menschen im globalen Süden treffen, die jedoch am
wenigsten für diese Situation verantwortlich sind. Transformations-, Anpassungs-
und Minderungsanstrengungen müssen entsprechend geteilt und verteilt werden.
Die Menschheit
befindet sich derzeit in den meisten Bereichen ausserhalb des Korridors
Gegenwärtig befindet sich die Menschheit in den
meisten Bereichen ausserhalb des Korridors, obwohl die als Grundlage
definierten Mindestbedürfnisse für die Mehrheit der Weltbevölkerung noch nicht
erfüllt sind. Die Erfüllung der Mindestbedürfnisse für alle würde den
biophysikalischen Druck erhöhen und den sicheren und gerechten Korridor weiter
verkleinern. Ein „Weiter so“ ist keine Option, denn es würde den sicheren und gerechten
Korridor weiter einengen - möglicherweise bis zu einem Punkt, an dem es kein
Zurück mehr gibt. Diese Sorge ist im Klimabereich besonders ausgeprägt, wie die
Autor:innen im Bericht betonen: „Radikale Dekarbonisierungsanstrengungen in
Kombination mit Umverteilung werden notwendig sein, um einen sicheren und
gerechten Klimakorridor für die Zukunft zu eröffnen".
Die Umsetzung der
Erdsystemgrenzen erfordert die Mobilisierung aller relevanten Akteur:innen
Die Operationalisierung von sicheren und gerechten
Erdsystemgrenzen erfordert die Übersetzung in umsetzbare Massnahmen für alle
relevanten Akteur:innen - politische Entscheidungsträger:innen, Unternehmen,
Bürger:innen - auf supranationaler, nationaler, regionaler, kommunaler,
privater, industrieller und betrieblicher Ebene. In ihrem Artikel konzentrieren
sich die Wissenschaftler:innen auf die Rolle von Städten und Unternehmen bei
der erforderlichen Umgestaltung, und auf die Frage, wie diese die
Erdsystemgrenzen auf ihrer Ebene operationalisieren können. Sie argumentieren,
dass diese Akteur:innen eher zu schnellem Handeln neigen als Staaten und
supranationale Institutionen. Dies gilt insbesondere für Städte: Es gibt
verschiedene Koalitionen für den Klimaschutz und vielerorts werden
Nettonull-Pläne entwickelt.
Die Konzentration auf Städte und Unternehmen als Akteur:innen des Wandels
scheint mir jedoch aus vielen Gründen überraschend. Zwar sind Städte und
Unternehmen in der Tat für einen grossen Teil der Umweltbelastung in allen
Erdsystemgrenzen verantwortlich, aber ihre (rechtlichen) Möglichkeiten sind in
Umfang und Reichweite begrenzt. Dies steht im Gegensatz zur sozio-metabolischen
Reichweite ihrer Entwicklung (d.h. der Gesamtheit der Material- und
Energieströme, die durch die städtische Entwicklung und den städtischen
Lebensstandard erzeugt werden), die sich aus der Operationalisierung von
Hinterländern (Landschaften und Ressourcen) weit über ihre kartographischen
Grenzen hinaus speist.
Ebenso wichtig ist es meiner Meinung nach, Unternehmen nur mit Vorsicht als
potenzielle Vorreiter für eine gerechtere Welt und einen sichereren Planeten zu
betrachten. Es gibt zwar einige Pionierunternehmen, die ihre Geschäftsmodelle
umgestalten, indem sie wissenschaftsbasierte Ziele integrieren, aber die meisten
konzentrieren sich leider bestenfalls auf die ESG-Berichterstattung und
Kommunikationsbemühungen. Der Artikel prangert Greenwashing-Praktiken an und
sieht in der Operationalisierung der Erdsystemgrenzen die Aussicht auf
verantwortungsvollere Unternehmenspraktiken.
Für mich bleibt aber die Frage: Wie wirksam kann dies sein, wenn die Umsetzung
von sicheren und gerechten Erdsystemgrenzen auf freiwilliger Basis durch die
Unternehmen erfolgt? Es besteht kein Zweifel, dass es für eine sozioökonomische
und ökologische Transformation in der Tiefe und Breite, wie sie der Status quo
erfordert, verbindliche internationale und nationale Regelungen braucht. Auch
wenn lokale und regionale Einheiten eine Rolle spielen, erfordert die globale
Verantwortung für die Erdsystemgrenzen ein koordiniertes globales Vorgehen. Auf
globaler Ebene könnten sie die Sustainable Development Goals ergänzen - wenn nicht gar ersetzen - und dazu
beitragen, das globale Management der globalen Commons zu fördern und
politische Entscheidungen zu leiten.
Systemische und
strukturelle Veränderungen sind notwendig
Um Wohlstand und eine faire und gerechte Verteilung
der Ressourcen für alle Menschen weltweit zu gewährleisten, sind systemische
und strukturelle Veränderungen notwendig - im Gegensatz zu kleinen,
schrittweisen Veränderungen. „Sie beziehen sich darauf, wer Ressourcen nutzt,
wie, warum, wo und wann sie genutzt werden und wer die Macht hat,
Entscheidungen zu treffen und die Umwelt zu verändern”.
Die Wissentschaftler:innen schlagen vier grundlegende und miteinander
verknüpfte Veränderungen vor, die durch systemweite Veränderungen in der Gouvernanz
unterstützt werden, darunter die Verringerung und Umverteilung des Konsums, die
Umgestaltung der Wirtschaftssysteme und die Erweiterung des Zugangs zu
nachhaltigen Technologien.
Die Verringerung des übermässigen Konsums (von Gütern, Dienstleistungen,
Energie, Nahrungsmitteln usw.) und die Umverteilung des Verbrauchs zugunsten
von Menschen, die nicht über ausreichende Ressourcen verfügen, wird dabei zunehmend
als eine Priorität erkannt, die auf Verteilungsgerechtigkeit beruht. Dabei geht
es nicht nur um die Linderung von Armut und den Abbau von Ungleichheiten,
sondern auch um die Veränderung von nicht nachhaltigen Lebensstilen und
umweltgefährdenden Konsummustern der übermässig konsumierenden Bevölkerung des
globalen Nordens hin zu suffizienteren Normen und Werten.
Wirtschaftliche Veränderungen sind ein wirksamer Hebel
Die vorherrschenden wachstumsorientierten politischen und wirtschaftlichen
Systeme sind ein Hindernis für ein Leben im sicheren und gerechten Korridor.
Sie stehen daher im Fokus für eine systemische Transformation. Der Bericht
erwähnt unter anderem die Postwachstumsforschung, die grundlegende
Veränderungen vorschlägt, um die politischen und wirtschaftlichen Systeme in
den Dienst des Lebens und nicht des Profits und der Akkumulation zu stellen.
Die Bewertung des Fortschritts sollte auf das Ziel ausgerichtet sein, innerhalb
des gerechten und sicheren Korridors zu leben, und könnte daher Indikatoren für
das Wohlergehen der Menschen und aller Lebewesen sowie für sozio-ökologische
Grenzen umfassen. Die Annahme solcher alternativer Messgrössen würde einen
zusätzlichen Anreiz für Veränderungen darstellen.
Nord-Süd-Gerechtigkeit könnte durch Schuldenerlass, die Beendigung schädlicher
Strukturanpassungsprogramme und faire Entschädigungsfonds für Verluste und
Schäden gefördert werden.Die faire Nutzung von Technologien ist ein weiterer wichtiger Aspekt, um
globale Gerechtigkeit zu gewährleisten. Eine zielführende Gouvernanz auf allen
Ebenen - supranational, national und lokal - ist notwendig, um die Transformation
von Konsum, Wirtschaft und Technologie zu ermöglichen. Dazu müssen alle
relevanten Akteur:innen mobilisiert werden, um Einfluss auf formelle und
informelle Regeln, Regelsysteme und Akteur:innen zu nehmen, die eine Anpassung
an die Veränderungen des Erdsystems verhindern, abschwächen oder im Gegenteil
fördern können.
In diesem Bericht wie auch in
anderen aktuellen Publikationen wenden sich die Wissenschaftler:innen neben den
üblichen Zielgruppen aus Wissenschaft und Politik zunehmend auch explizit an
Bürger:innen und die breite Öffentlichkeit. Ich interpretiere diesen Wandel als
Weckruf, dass jede:r von uns eine Rolle zu spielen hat, wenn es darum geht, mit
vereinten Kräften das Leben auf unserem geliebten Planeten zu schützen. Es ist
ein Aufruf zu kollektivem Handeln, welches das Potenzial hat, den Mangel an notwendigen
politischen Massnahmen zu überwinden. Sich zu engagieren ist auch ein Weg, das
Gefühl der Verzweiflung zu überwinden, das uns angesichts der harten Realität
der Klima- und Umweltveränderungen überkommt.
Empfohlene Ressourcen zur Vertiefung:
Earth
Commission
Planetary
Health Check 2024
A
just world on a safe planet: a Lancet Planetary Health–Earth Commission report
on Earth-system boundaries, translations, and transformations