I Interview mit Leonardo Conte, Forschungsmitarbeiter
am Laboratoire de sociologie urbaine (LaSUR) der EPFL in Lausanne. Leonardo hat
an der Universität Freiburg Wirtschaftswissenschaften studiert und sich mit
Wirtschaftsmethodik und dem Verhalten von Konsumentinnen und Konsumenten
befasst. Während seiner Tätigkeit als Wirtschaftsdozent an der Franklin
University Switzerland in Lugano hat er das Schweizer Netzwerk von Rethinking
Economics mitbegründet. Leonardo ist gleichzeitig Mitglied beim Swiss
Donut Economics Network.
Hallo Leonardo, wie hast du die Donut-Ökonomie
entdeckt?
2014 war
ich für einen akademischen Aufenthalt in England und lernte das Netzwerk Rethinking
Economics kennen. Studierende in Manchester, Cambridge und London hatten es im
Anschluss an die Finanzkrise 2008 gegründet, weil sie mit der aktuellen
Wirtschaftslehre unzufrieden waren und nach
alternativen Modellen und Theorien jenseits des neoklassischen Paradigmas
suchten. Rethinking Economics verfolgt das Ziel, theoretischen Pluralismus in
der Ökonomie zu fördern. Die Donut-Theorie – ebenso wie jene von Degrowth und
Postwachstum – gehört dazu.
Nach meiner Rückkehr habe ich nicht nur das Schweizer Netzwerk von Rethinking
Economics mitgegründet, sondern im Rahmen meines Kurses International
Business Economics an der Franklin University Switzerland 2019 auch Kate Raworth eingeladen, eine
öffentliche Masterclass über die Donut-Ökonomie zu geben – organisiert zusammen
mit anderen Tessiner Universitäten. Das war ein
besonders inspirierender Moment: Ich hatte die Gelegenheit, Kate besser
kennenzulernen und die Donut-Theorie gemeinsam mit anderen Enthusiast·innen zu
vertiefen.
Meiner Meinung nach bietet der Donut enorme Vorteile für alle Bereiche: Er macht die planetaren und sozialen Herausforderungen sichtbar und zeigt den «sicheren und gerechten» Handlungsraum für die Menschheit. Und er ist nicht nur Theorie – sondern liefert auch konkrete Werkzeuge für die Umsetzung.
Warum interessiert dich Doughnut Economics?
Die
Donut-Theorie ist eine Art, unsere Präsenz auf der Erde zu begreifen – besonders
aus „makro“-Perspektive. Gleichzeitig spricht sie mich auch auf der
persönlichen, „mikro“-Ebene an, weil sie mit unserem individuellen Verhalten
verknüpft ist.
Der Donut ist ein starkes visuelles und konzeptuelles Werkzeug, das uns an die
sozialen und ökologischen Auswirkungen unserer täglichen Handlungen erinnert,
indem er individuelles Verhalten mit ökonomischen und planetaren Dimensionen
verbindet. Er macht deutlich, dass jede Entscheidung, die auf den ersten Blick neutral
und privat erscheint, gleichzeitig enorme Konsequenzen für andere haben kann, die
sich räumlich oder zeitlich entfernt befinden.
Der Donut verkörpert für mich ein zentrales Prinzip: das der Grenze – ein Konzept, das
in unseren westlichen Gesellschaften zunehmend in Vergessenheit geraten ist.
Wir glauben, allmächtig und „frei“ zu sein, zu tun, was wir wollen: überallhin
zu reisen, alles zu konsumieren, unbegrenzt einzukaufen. Natürlich wurden diese
Freiheiten und dieser Wohlstand hart erkämpft. Doch heute blenden wir die
Konsequenzen eines solch hohen Freiheitsgrades aus – oder weigern uns, sie zu
sehen. Die Donut-Theorie zeigt auf, welchen Preis wir zahlen, wenn wir
weiterhin planetare Grenzen und grundlegende soziale Bedürfnisse ignorieren: wir
riskieren Sicherheit und Gerechtigkeit, die im Zentrum des Donuts liegen.
Wie integrierst du den Donut in deinen Alltag ?
Im
täglichen Leben orientiere ich mich an den Prinzipien von Grenze, Sicherheit
und Gerechtigkeit, die der Donut bietet – sei es bei der Wahl des
Transportmittels, der Urlaubsform, beim Einkaufen oder bei der Ernährung.
Beim Unterrichten habe ich die Donut-Theorie in meine Kurse an mehreren
Schweizer Universitäten integriert. Zusammen mit anderen Ansätzen nutze ich sie
auch, um Studierenden konkrete Erfahrungen zu ermöglichen. Ein Beispiel: Ich
habe den Donut verwendet, um in eine akademische Exkursion einzuführen, die auf
dem «slow living»-Konzept basierte, welches «slow travel», «slow food» und
«slow fashion» vereint.
Ich bin überzeugt, dass Bildung einer der stärksten Hebel für Verhaltensänderungen
ist. Wer neue Theorien kennenlernt, verändert seine Denkweise – und damit,
bewusst oder unbewusst, auch sein Handeln. Zudem sind die Studierenden von
heute die Manager·innen und politischen Entscheidungsträger·innen von morgen!
Hat die Donut-Theorie im akademischen Umfeld Erfolg?
Der Donut
– wie auch andere heterodoxe ökonomische Theorien – gilt an Universitäten noch
immer häufig als „zu wenig wissenschaftlich“. Hauptkritikpunkte sind einerseits
das Fehlen präziser mathematischer Modelle, andererseits ein vermeintlicher
Mangel an empirischen Daten. Während der erste Punkt vor allem eine
institutionelle und kulturelle Anforderung der „Mainstream“-Ökonomie darstellt,
ist der zweite inzwischen weitgehend widerlegt: Zahlreiche Studien haben die
verschiedenen Elemente des Donuts quantifiziert und gezeigt, dass es sich um
eine fundierte ökonomische Theorie handelt – und nicht „nur“ um ein
konzeptionelles Rahmenwerk.
Dennoch bleibt die Ökonomie aus institutionellen und historischen Gründen an
enge Normen gebunden: es braucht Publikationen in bestimmten wissenschaftlichen
Journalen, spezifische Theorien müssen gelehrt, und bestimmte Methoden genutzt
werden. Anders als viele Sozialwissenschaften tut sich die Ökonomie schwer
damit, diese Fesseln zu lösen. Doch gibt es Universitäten und Fakultäten, die
offener sind als andere. Und dank Gruppen wie Rethinking Economics wird der
„Monismus“ nun zunehmend hinterfragt.
Gerade in der Schweiz sehe ich auch besonders interessante Möglichkeiten an
Fachhochschulen: denn diese setzen stärker auf die praktische Umsetzung und
schlagen Brücken zwischen der Lehre, dem öffentlichen und dem privaten Sektor.
Für mich liegt die größte Stärke des Donuts darin, dass er verbindet:
+ Umwelt und Gesellschaft
+ Mikroebene (individuelles Verhalten) und Makroebene (System, Politik)
+ Theorie und Praxis
+ Öffentliche, private und akademische Institutionen
+ Natur- und Sozialwissenschaften (durch Interdisziplinarität)
Wo liegen deiner Meinung nach die grössten Hebel des
Donuts?
Bildung
ist zweifellos ein starker Hebel, um Kulturen zu verändern – aber ihre Wirkung
zeigt sich oft erst nach Generationen. Wir haben jedoch keine Zeit zu
verlieren – ganz besonders in Anbetracht der Klimakrise! Deshalb sollten
wir parallel auch auf schneller wirkende Hebel setzen.
Der entscheidende Ansatzpunkt liegt für mich im individuellen Verhalten. Die
Visualisierung planetarer Grenzen und grundlegender sozialer Bedürfnisse durch
den Donut kann Menschen sensibilisieren. Aber das allein reicht nicht, um allgemeine
und dauerhafte Verhaltensänderungen zu bewirken. Dafür braucht es ergänzende
Ansätze auf unterschiedlichen Ebenen. “Nudging» etwa ist relativ einfach umzusetzen
und wirkt auf der kognitiven, psychologischen Ebene. Doch die Veränderungen
bleiben oft punktuell und führen selten zu tiefgreifenden kulturellen
Transformationen. Komplexere, aber ebenso wirksame Mittel zur Veränderung des
Verhaltens liegen meiner Meinung nach eher in der Transformation der Kultur des
Konsums.
Und wie sieht es im öffentlichen und privaten Sektor aus?
Im
öffentlichen Bereich sehe ich ein enormes Potenzial, besonders auf kommunaler
und kantonaler Ebene. Einige Gemeinden und Kantone verfügen bereits über
Nachhaltigkeitsbeauftragte, die den Donut einführen und nutzen können –
idealerweise als strategischen Rahmen, um Massnahmen sowie Entscheidungen in
der Lokalpolitik zu steuern.
Im privaten Sektor spielen besonders KMU und Startups eine Schlüsselrolle. Sie sind stärker in ihrer
Region verwurzelt als multinationale Konzerne, die in der Schweiz oft aus rein
steuerlichen Gründen präsent sind. Daher haben KMU ein direktes Interesse
daran, planetare Grenzen zu respektieren. Und während soziale Mindeststandards
hierzulande vergleichsweise hoch sind, könnten wir uns sogar eine leichte Absenkung des Lebensstandards leisten, solange der Prozess fair und gerecht organisiert ist. Dies im Gegensatz zu Ländern, wo absenken keine Option ist, weil grundlegende soziale Bedürfnisse noch
lange nicht gedeckt sind.
Vielen Dank, Leonardo, fürs Teilen deiner Ansichten und Erfahrungen!