Der Donut im Unterricht – ein wirksamer Hebel für den Wandel?

5. September 2025 durch
Der Donut im Unterricht – ein wirksamer Hebel für den Wandel?
Swiss Donut Economics Network, Karin Mader

I Interview mit Leonardo Conte, Forschungsmitarbeiter am Laboratoire de sociologie urbaine (LaSUR) der EPFL in Lausanne. Leonardo hat an der Universität Freiburg Wirtschaftswissenschaften studiert und sich mit Wirtschaftsmethodik und dem Verhalten von Konsumentinnen und Konsumenten befasst. Während seiner Tätigkeit als Wirtschaftsdozent an der Franklin University Switzerland in Lugano hat er das Schweizer Netzwerk von Rethinking Economics mitbegründet. Leonardo ist gleichzeitig Mitglied beim Swiss Donut Economics Network

Hallo Leonardo, wie hast du die Donut-Ökonomie entdeckt?

2014 war ich für einen akademischen Aufenthalt in England und lernte das Netzwerk Rethinking Economics kennen. Studierende in Manchester, Cambridge und London hatten es im Anschluss an die Finanzkrise 2008 gegründet, weil sie mit der aktuellen Wirtschaftslehre unzufrieden waren  und nach alternativen Modellen und Theorien jenseits des neoklassischen Paradigmas suchten. Rethinking Economics verfolgt das Ziel, theoretischen Pluralismus in der Ökonomie zu fördern. Die Donut-Theorie – ebenso wie jene von Degrowth und Postwachstum – gehört dazu.
Nach meiner Rückkehr habe ich nicht nur das Schweizer Netzwerk von Rethinking Economics mitgegründet, sondern im Rahmen meines Kurses International Business Economics an der Franklin University Switzerland 2019 auch Kate Raworth eingeladen, eine öffentliche Masterclass über die Donut-Ökonomie zu geben – organisiert zusammen mit anderen Tessiner Universitäten. Das war ein besonders inspirierender Moment: Ich hatte die Gelegenheit, Kate besser kennenzulernen und die Donut-Theorie gemeinsam mit anderen Enthusiast·innen zu vertiefen.

Meiner Meinung nach bietet der Donut enorme Vorteile für alle Bereiche: Er macht die planetaren und sozialen Herausforderungen sichtbar und zeigt den «sicheren und gerechten» Handlungsraum für die Menschheit. Und er ist nicht nur Theorie – sondern liefert auch konkrete Werkzeuge für die Umsetzung. 


Warum interessiert dich Doughnut Economics?

Die Donut-Theorie ist eine Art, unsere Präsenz auf der Erde zu begreifen – besonders aus „makro“-Perspektive. Gleichzeitig spricht sie mich auch auf der persönlichen, „mikro“-Ebene an, weil sie mit unserem individuellen Verhalten verknüpft ist.
Der Donut ist ein starkes visuelles und konzeptuelles Werkzeug, das uns an die sozialen und ökologischen Auswirkungen unserer täglichen Handlungen erinnert, indem er individuelles Verhalten mit ökonomischen und planetaren Dimensionen verbindet. Er macht deutlich, dass jede Entscheidung, die auf den ersten Blick neutral und privat erscheint, gleichzeitig enorme Konsequenzen für andere haben kann, die sich räumlich oder zeitlich entfernt befinden.
Der Donut verkörpert für mich ein zentrales Prinzip: das der Grenze – ein Konzept, das in unseren westlichen Gesellschaften zunehmend in Vergessenheit geraten ist. Wir glauben, allmächtig und „frei“ zu sein, zu tun, was wir wollen: überallhin zu reisen, alles zu konsumieren, unbegrenzt einzukaufen. Natürlich wurden diese Freiheiten und dieser Wohlstand hart erkämpft. Doch heute blenden wir die Konsequenzen eines solch hohen Freiheitsgrades aus – oder weigern uns, sie zu sehen. Die Donut-Theorie zeigt auf, welchen Preis wir zahlen, wenn wir weiterhin planetare Grenzen und grundlegende soziale Bedürfnisse ignorieren: wir riskieren Sicherheit und Gerechtigkeit, die im Zentrum des Donuts liegen.

Wie integrierst du den Donut in deinen Alltag ?

Im täglichen Leben orientiere ich mich an den Prinzipien von Grenze, Sicherheit und Gerechtigkeit, die der Donut bietet – sei es bei der Wahl des Transportmittels, der Urlaubsform, beim Einkaufen oder bei der Ernährung.
Beim Unterrichten habe ich die Donut-Theorie in meine Kurse an mehreren Schweizer Universitäten integriert. Zusammen mit anderen Ansätzen nutze ich sie auch, um Studierenden konkrete Erfahrungen zu ermöglichen. Ein Beispiel: Ich habe den Donut verwendet, um in eine akademische Exkursion einzuführen, die auf dem «slow living»-Konzept basierte, welches «slow travel», «slow food» und «slow fashion» vereint.
Ich bin überzeugt, dass Bildung einer der stärksten Hebel für Verhaltensänderungen ist. Wer neue Theorien kennenlernt, verändert seine Denkweise – und damit, bewusst oder unbewusst, auch sein Handeln. Zudem sind die Studierenden von heute die Manager·innen und politischen Entscheidungsträger·innen von morgen!

Hat die Donut-Theorie im akademischen Umfeld Erfolg?

Der Donut – wie auch andere heterodoxe ökonomische Theorien – gilt an Universitäten noch immer häufig als „zu wenig wissenschaftlich“. Hauptkritikpunkte sind einerseits das Fehlen präziser mathematischer Modelle, andererseits ein vermeintlicher Mangel an empirischen Daten. Während der erste Punkt vor allem eine institutionelle und kulturelle Anforderung der „Mainstream“-Ökonomie darstellt, ist der zweite inzwischen weitgehend widerlegt: Zahlreiche Studien haben die verschiedenen Elemente des Donuts quantifiziert und gezeigt, dass es sich um eine fundierte ökonomische Theorie handelt – und nicht „nur“ um ein konzeptionelles Rahmenwerk.
Dennoch bleibt die Ökonomie aus institutionellen und historischen Gründen an enge Normen gebunden: es braucht Publikationen in bestimmten wissenschaftlichen Journalen, spezifische Theorien müssen gelehrt, und bestimmte Methoden genutzt werden. Anders als viele Sozialwissenschaften tut sich die Ökonomie schwer damit, diese Fesseln zu lösen. Doch gibt es Universitäten und Fakultäten, die offener sind als andere. Und dank Gruppen wie Rethinking Economics wird der „Monismus“ nun zunehmend hinterfragt.
Gerade in der Schweiz sehe ich auch besonders interessante Möglichkeiten an Fachhochschulen: denn diese setzen stärker auf die praktische Umsetzung und schlagen Brücken zwischen der Lehre, dem öffentlichen und dem privaten Sektor.

Für mich liegt die größte Stärke des Donuts darin, dass er verbindet:
+ Umwelt und Gesellschaft
+ Mikroebene (individuelles Verhalten) und Makroebene (System, Politik)
+ Theorie und Praxis
+ Öffentliche, private und akademische Institutionen
+ Natur- und Sozialwissenschaften (durch Interdisziplinarität)


Wo liegen deiner Meinung nach die grössten Hebel des Donuts?

Bildung ist zweifellos ein starker Hebel, um Kulturen zu verändern – aber ihre Wirkung zeigt sich oft erst nach Generationen. Wir haben jedoch keine Zeit zu verlieren – ganz besonders in Anbetracht der Klimakrise! Deshalb sollten wir parallel auch auf schneller wirkende Hebel setzen.
Der entscheidende Ansatzpunkt liegt für mich im individuellen Verhalten. Die Visualisierung planetarer Grenzen und grundlegender sozialer Bedürfnisse durch den Donut kann Menschen sensibilisieren. Aber das allein reicht nicht, um allgemeine und dauerhafte Verhaltensänderungen zu bewirken. Dafür braucht es ergänzende Ansätze auf unterschiedlichen Ebenen. “Nudging» etwa ist relativ einfach umzusetzen und wirkt auf der kognitiven, psychologischen Ebene. Doch die Veränderungen bleiben oft punktuell und führen selten zu tiefgreifenden kulturellen Transformationen. Komplexere, aber ebenso wirksame Mittel zur Veränderung des Verhaltens liegen meiner Meinung nach eher in der Transformation der Kultur des Konsums.

Und wie sieht es im öffentlichen und privaten Sektor aus?

Im öffentlichen Bereich sehe ich ein enormes Potenzial, besonders auf kommunaler und kantonaler Ebene. Einige Gemeinden und Kantone verfügen bereits über Nachhaltigkeitsbeauftragte, die den Donut einführen und nutzen können – idealerweise als strategischen Rahmen, um Massnahmen sowie Entscheidungen in der Lokalpolitik zu steuern.
Im privaten Sektor spielen besonders KMU und Startups eine Schlüsselrolle. Sie sind stärker in ihrer Region verwurzelt als multinationale Konzerne, die in der Schweiz oft aus rein steuerlichen Gründen präsent sind. Daher haben KMU ein direktes Interesse daran, planetare Grenzen zu respektieren. Und während soziale Mindeststandards hierzulande vergleichsweise hoch sind, könnten wir uns sogar eine leichte Absenkung des Lebensstandards leisten, solange der Prozess fair und gerecht organisiert ist. Dies im Gegensatz zu Ländern, wo absenken keine Option ist, weil grundlegende soziale Bedürfnisse noch lange nicht gedeckt sind.

Vielen Dank, Leonardo, fürs Teilen deiner Ansichten und Erfahrungen!